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Übers Aufräumen

Thomas Haemmerli am 18. April 2007 am 14:23 Uhr

Dieser Text erschien in einer Beilage der Wiener Zeitung Der Standard

Erkenntnisse aus meiner Nachttischschublade

1. Es war mir immer ein Rätsel, wie es Journalisten geben kann, die über eine leere, aufgeräumte Schreibtischplatte verfügen. Wohin mit den Ausstellungseinladungen? Den Bildbänden, den CDs, die tagtäglich angespült werden? Aus denen ein Artikel werden könnte! Die eine Gelegenheit bergen, mit lieben Kollegen gratis zu bechern. Wohin mit den Bücherstapeln und Sichtmäppchen, die man für diese oder jene Geschichte braucht? Mein Schreibtisch jedenfalls ist immer voll, egal wir groß er ist. Schon in der Schule, schien mir, hatte ich immer mehr Sachen als die anderen. Und musste einige Male die Demütigung über mich ergehen lassen, dass der Lehrer coram Klassenkollegen mein Pult neigte, bis alles auf den Boden purzelte.

2. Es muss traumatisch gewesen sein, denn heute bezahle ich harte Schweizer Franken, um die Ordnungs-Peitsche zu schmecken. Jede Woche habe ich Hausbesuch von einer Portugiesin. Sie arbeitet bei mir als Putzfrau, was heißt, dass ich vorher ein wenig aufräumen mussmussmuss. Weil sie schon seit drei Wohnungen bei mir putzt, habe ich mich gänzlich unterworfen und sie beim letzten Umzug nach ihrem eigenen Gusto Kleider, Küchenutensilien und Krimskrams einräumen lassen. Mein Daheim ist jetzt ihr Reich, die Dinge, die ich besitze, unterliegen ihrem Regime, und allesamt beugen wir uns ihrem Willen zum Blitzblanken. Bei meinem Freund Thomas Campolongo hat eine tiefgläubige Scheuerfrau das Zepter, und wenn er Arakis Bondage-Bildbände oder Nackedei-Illustrierten herumliegen lässt, dekoriert sie die Wohnung mit gezeichneten Christenkreuzen samt Ausrufezeichen. Damals, als man’s gerne schräg hatte und den Tisch parallel zur Zimmerdiagonale statt zu den Wänden stellte, hatte ich eine Putze, die sich weigerte, das Konzept „schräg“ als Aggregatzustand einer aufgeräumten Wohnung auch nur in Betracht zu ziehen. Außerdem warf sie alle Zeitungen, ja selbst rausgerissene Artikel weg, kurzum, das Putzfrauensystem zeitigt zivilisierende und hegende Wirkung.

3. Kaum entfliehe ich der Fuchtel meiner Putzdomina und bin länger als einen halben Tag in einem Hotelzimmer, sieht es aus wie im Zimmer eines sehr schlimmen Teenagers auf Konfrontationskurs mit Muttern. Ich vermute, das hängt auch mit der Unordnung im Hirn zusammen. Wäre man ein ordentlich anständiger Mensch, man läse bloß ein Buch, und erst wenn es zu Ende wäre, griffe man sich ein neues. Um mein Bett herum aber türmen sich die Stapel, weil ich nächtens für jede Befindlichkeit gewappnet sein will. Dann diese Unentschlossenheit in Sachen Kleider! Ich streife den blau-weißen Matrosenpullover über und finde: zu knabenhaft. Ich probiere den indischen Leinenanzug, seh‘ mich im Spiegel, und augenblicklich schläft mir das Gesicht ein, weil ich ihn zu oft getragen habe. Bis ich aus dem Hause gehe, liegt ein ganzer Berg Kleider da. Hämisch grinsende Hemden raunen mir zu:

Nie und nimmer schaffst du’s, mich wieder in ein Rechteck zu falten! Ich will jetzt einen eigenen Bügel.

Ich tue so, als hätt ich nix gehört, und lasse die Bagage liegen.

4. Gestern Nacht riss ich im Zustande ebenso fortgeschrittener wie fröhlicher Trunkenheit meine Nachttischschublade zu enthusiastisch auf, sodass der Inhalt mit Getöse zu Boden flog. Pardauz! Beim nächtlichen Wasserlassen, der einzigen Tätigkeit neben Schlafen und Beischlafen, die ich ohne meine Brille (neun Dioptrien!) besorge, ließ mich der Autopilot, blind, wie ich war, das Plastikschälchen zertreten, in dem seit Monaten die unberührten Sticks für Zahnzwischenraumreinigungen lagern, die mir der Herr Zahnarzt so dringend anempfiehlt. Auf dem Weg zurück blieben zwei, drei UFEs (unidentifizierbare Entitäten) an meinen Sohlen kleben, die sich aber, kaum war ich wieder unter der Decke, abstreifen ließen und jetzt wahrscheinlich im Bett wohnen bleiben, bis die Wäsche gewechselt wird.

5. The day after. Atomarer Winter verdüsterte den Himmel, zerlumpte, brandige Gestalten streiften durch mein Schlafzimmer, derweil ich die Trümmerfrau gab und die Schublade wieder einräumte. Otrivin Nasenspray. Eine 10er-Packung roter Ohropax-Soft-Schaumstoffstöpsel, diverse gelbe Ohrstöpsel, Post-it-Notizzettel mit unleserlichen Notizen, Visitenkarten von Menschen, die ansonsten keinen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Vier Bleistifte, konventionell, sieben Druckbleistifte, ein rosafarbener Textmarker, drei Kugelschreiber, zwei MiniDV-Kassetten, eine große Schraube unbekannter Herkunft, die aber dermaßen unüblich aussieht, dass man sie nicht wegzuwerfen wagt, weil der Tag kommen könnte, da man genau diese Schraube braucht.

(Haemmerli? Jack Bauer, CTU Los Angeles, am Apparat. Ein Hubschrauber ist unterwegs. Wir haben hier einen scharfen Thermonuklearkopf, wir brauchen die Entschärfungsschraube, jetzt!)

Ein Touristen-Quellwassertrinkbecher aus Karlsbad. Ein Ansteckbutton von Yoko Ono mit der Aufforderung „Breathe“, ein Ansteckbutton von Cornel Windlin mit der Feststellung „Roger Köppel is a wanker“. Ein kleines Feuerzeug (obwohl sowohl ich als auch die Nachttischschublade seit vielen Jahren nicht mehr rauchen), ein silberner Design-Schlüsselanhänger, der mir einst als Geburtstagsgeschenk zulief, zwei Pärchen Manschettenknöpfe, diverse Advil-Dragees gegen Migräne und Katerkopfweh, eine Salbe, die gegen Beschwernisse im Bereich des Untenrum Dienst getan hatte, sowie die Wundsalbe, die ich auf die transplantierte Haut (Totalschaden) hätte streichen sollen. Büroklammern, ein paar Münzen, lose Batterien, Druckbleistiftminen (0,5), Inflamac Antirheumamittel gegen Stechen in der Brust und, neu, auch noch lose Zahnzwischenraumreinigerstäbchen.

6. Gründlich aufräumen ist wie Inventur machen. Jeder Gegenstand geht einem wenigstens einmal durch die Finger. Glücklich, wer da leichten Herzens „Ab in den Müll!“ entscheiden kann. Unglücklich meine Mutter, die nix wegwerfen konnte und ein schwerer Fall eines Messies war. Justament an meinem vierzigsten Geburtstag vernahm ich die Nachricht ihres Todes. Der Leichnam hatte wenigstens eine Woche auf der Bodenheizung gelegen und war stark verwest. Der nächste Schock war die komplett vermüllte Wohnung. Weil sich niemand finden ließ, der einem derlei abnimmt, und weil wir ein paar Dokumente behändigen mussten, räumten mein Bruder und ich während eines Monats jeden Tag von früh bis spät auf.

7. Unerträglich war der Fleck, der vom Leichnam übrig geblieben war. Und der Leichengestank, der sich nicht vertreiben ließ. Mein Bruder, ein hartgesottener Gastronomieunternehmer, nahm den Kampf gegen Mutterns olfaktorische Hinterlassenschaft auf, mixte einen scharfen Cocktail aus Javelwasser, Meister Proper und was sich sonst noch so fand. Keine Chance! Selbst die vom Hausbesitzer georderten Alchemisten, die mit Spezialchemie arbeiteten, hatten keinen Erfolg. Leichensäfte, hatte mir der Fachmann erklärt, ziehen bis einen halben Meter in den Beton ein. Der Boden musste da, wo der Leichnam gelegen hatte, aufgespitzt und hernach frisch gegossen werden.

8. In den Materialbergen fand sich die Familiengeschichte. Peinliche Sachen kamen da zum Vorschein! Etwa dass mein Ururgroßvater Polizeirat Franz Ritter von Infeld in Wien Chef der Pressepolizei, also oberster Zensor, gewesen war. Umfangreichen Briefwechseln entnahm ich, dass seine Tochter Rosa in Graz das falsche Verhältnis gehabt hatte und, als die Geschichte aufflog, „den Kontinent verlassen“ musste. Rosa verbrachte ihr Leben in einem Kloster in Irland und schrieb vor Sehnsucht nach Liebe überquellende Briefe nach Graz. Selbstverständlich habe ich all diese Briefe, Fotos sowie die Familienaufnahmen, die in den 30er-Jahren einsetzen, behalten.

9. Wirklich beunruhigt war ich, als ich herausfand, dass auch meine Oma eine vermüllte Wohnung hinterlassen hatte. Angst habe ich, seit ich weiß, dass Messies oft breit interessierte Menschen sind, die vom perfekten Archiv träumen. Ich doch auch. Und je mehr man weiß, desto mehr Gegenstände werden interessant. Gehe ich in ein Antiquariat, dann ruft’s bei den Kunstbüchern und der Geschichte, aus Politik und Fotografie, aus Reiseberichten und Tagebüchern verführerisch: Nimm mich! Nimm mich! Und weil ich in vier Sprachen lese, höre ich dann auch noch: Here I am! Vous me cherchez à moi? ¡Aquí!! ¡Aquí! Meine arme Mutter las in sechs Sprachen.

10. Schlimmer wird das Interesse an vielem durch die fixe Idee, alles könnte nochmals gebraucht werden.

(Haemmerli! Hier Jack Bauer. Die Schraube! JETZT!)

Meine Mutter rationalisierte das mit Ökologie. Keine Ressourcen verschwenden! Nix wegwerfen. Ironie der Geschichte: Im Chaos fand sie nichts und kaufte deshalb viele Dinge mehrfach. So fanden wir in der Wohnung fünf Bohrmaschinen. Zum Krankheitsbild gehört aber auch die Sentimentalität gegenüber den Dingen. Wer jedes Souvenir, jeden alten Ferienprospekt, jedes Grauen erregende Mitbringsel mit Gefühlen besetzt, dem erschiene es als Verrat, sich davon zu trennen. Verrat an den schönen Ferien. Verrat an der gemeinsamen Erinnerung. Verrat am lieben Geschenkgeber.

11. Vom ersten Tag an drehte ich in der Wohnung meiner Mutter. Die Aufnahmen wurden, zusammen mit Dokumenten, Fotos und Familienfilmen aus siebzig Jahren die Grundlage für meinen Dokumentarfilm Sieben Mulden und eine Leiche. Geschnitten habe ich mit meinem Cutter in Prag, um in Ruhe arbeiten zu können. Mark Divo, ein befreundeter Künstler, hatte mir seine angeblich leer stehende Großbürgerwohnung in Prag angeboten. Am ersten Tag entrümpelten wir. Mit Putzen begannen wir gar nicht erst, weil das wenigstens eine harte Woche Arbeit bedeutet hätte. Künstler eben! Außerdem kam Divo zurück, und ständig übernachteten mehrere Leute in Schlafsäcken, die Divo hier und dort aufgegabelt hatte. Eigenartig war: Ich, der Grandseigneur, der Luxushotels, schickes Leben und die Knute der Putzfrau liebt, hatte den Ekel vor dem Schmutz nach drei Tagen überwunden. Auch ich duschte nur noch jeden zweiten Tag und fand es in der chaotischen Groß-WG ohne Putzplan charmant und aufregend.

12. Und auch sonst bin ich optimistisch, denn es gibt Hoffnung für uns alle. Der Unterschied zwischen einem eingefleischten Sammler und einem Messie ist oft nur der zur Verfügung stehende Raum. Andy Warhol beispielsweise war ein krankhafter Sammler, der jeden Tag shoppen ging und alles und jedes sammelte. Mit einem Atelier und einem 26-Zimmer-Haus ist das aber kein Problem. In einer normalen Mietwohnung dagegen, wird es irgendwann so voll, dass man niemanden mehr in die Wohnung lässt. Das aber muss nicht mehr sein. Mit der Digitalisierung können wir alle den Warhol in uns von der Leine lassen. Mächtige Festplatten geben das 26-Zimmer-Haus, und wenn es voll ist, kauft man eins dazu. Im meinem Büro habe ich drei Terabyte – das sind 3000 Giga – stehen. Meine Musiksammlung ist größer als mancher Schallplattenladen. Von den digitalen Bildern, Büchern und Filmen ganz zu schweigen. Ich bin ein digitaler Messie. Ein Problem ist das nicht, denn für meine Putzfrau werde ich damit nie verhaltensauffällig.

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